Statt Kultur für –
Kultur mit dem Publikum

Die Vielfalt des Denkens
Jeder Mensch erlebt die Welt auf seine Weise.
Manche nehmen Geräusche, Muster, Gefühle oder Gedanken deutlicher wahr als andere.
Manche denken in Bildern, in Musik, manche in Bewegungen, andere in langen, verschlungenen Linien.
Diese Verschiedenheit ist keine Abweichung, sondern Ausdruck der natürlichen Vielfalt menschlicher Wahrnehmung.
In manchen Kulturen galt sie als Gabe, in anderen als Störung – doch immer ging es um dasselbe:

Wie weit öffnen wir den Raum für das, was nicht in unsere Gewohnheit passt?
Wenn wir Unterschiede nicht bewerten, sondern sie als verschiedene Arten des Wahrnehmens verstehen, wird etwas stiller und weiter in uns.

Dann wird spürbar, dass Denken kein festes Werkzeug ist, sondern eine lebendige Bewegung – so verschieden wie die Menschen selbst.

Die Lage: eine Welt im Umbruch
Diese Haltung ist kein Luxus, sondern notwendig.

Denn wir leben mitten in einer Vielfachkrise – einem Geflecht aus mindestens drei ineinandergreifenden Umbrüchen:

  • Das Erdsystem erreicht Kipppunkte: Artenvielfalt, Wasserkreisläufe, Klima, Böden, und verändern sich schneller, als Gesellschaften reagieren können.
  • Die geopolitische Ordnung verschiebt sich. Die jahrhundertelange westliche Dominanz bröckelt, neue Machtzentren entstehen, und vertraute Gewissheiten lösen sich auf.
  • Die westlichen Systeme – Wirtschaft, Politik, Soziales – geraten unter Druck. Ökologische Grenzen, soziale Spaltung und Vertrauensverlust verstärken einander.

Diese Entwicklungen sind nicht voneinander zu trennen.
Sie zeigen, dass die großen Fragen unserer Zeit nicht technisch, sondern kulturell sind:
Wie wir denken, wie wir sprechen, wie wir miteinander umgehen, entscheidet darüber, ob Wandel gelingen kann.
Gerade deshalb braucht es eine neue kulturelle Verantwortung – jenseits von Marktlogik und Schlagwortpolitik.

Diese Verantwortung beginnt nicht irgendwo, sondern hier, in den Städten, Gemeinden und Regionen, in denen wir leben.
Hier können wir erproben, was gesellschaftlich tragfähig bleibt, wenn große Systeme ins Wanken geraten.

Lokale Kulturarbeit hat dabei eine doppelte Rolle: Sie stärkt das soziale Gefüge im Alltag – und sie übersetzt die globalen Fragen in konkrete, greifbare Formen des Miteinanders.
Ob in Schulen, auf Bühnen, in Nachbarschaften oder im öffentlichen Raum – überall dort, wo Menschen sich begegnen, können neue Formen von Vertrauen, Zuhören und gemeinsamer Gestaltung entstehen.

Gerade in dieser regionalen Verankerung liegt eine Chance:

  • Hier können wir anders handeln, bevor es andere für uns tun.
  • Hier kann Kultur zeigen, dass Wandel nicht mit Verzicht, sondern mit neuem Sinn zu tun hat – mit dem Wiederentdecken dessen, was uns verbindet.

„Wo die Begriffe nicht stimmen, geraten Denken und Handeln in Unordnung.“ (Laozi)
Wenn Begriffe ungenau, modisch oder politisch bequem verwendet werden, verschieben sich Bedeutungen – und mit ihnen das Verständnis der Welt.
Das betrifft auch die Kultur selbst:

Kunst und Kultur sind nicht das Gleiche.
Kultur ist das Netz von Beziehungen, das unser Zusammenleben trägt. Sie ist so etwas wie ein gemeinsames Sinnesorgan der Gemeinschaft – das, womit wir fühlen, zuhören und nachdenken.

Kunst ist ihr Ausdruck – ihr sichtbares und hörbares Gesicht.

Es geht also nicht um weniger Kunst, sondern um mehr Raum, in dem Kunst wirken, berühren und Kultur erneuern kann.
Wenn aber Kultur bloß Beteiligung meint – dann kippt der Sinn. Dann verlieren wir den inneren Kompass: Kultur wird zur Dekoration, nicht mehr zum Organ gesellschaftlicher Wahrnehmung.

Sprache entscheidet also darüber, ob wir die Welt als Konsum oder als Beziehung erfahren – und ob Menschen sich in ihr wiederfinden oder sprachlos bleiben.

Kultur als gemeinsame Praxis
Das Fringe Festival Freiburg steht für diese Rückbesinnung auf Wahrnehmung, Sprache und Beziehung. Es ist kein Event, sondern ein Prozess. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie gesellschaftliche Zukunft gelingen kann – durch gemeinsames Lernen, Vertrauen, Neugier und das Aushalten von Differenzen.
Kunst wird hier nicht als Dekoration verstanden, sondern als Werkzeug kollektiver Wahrnehmung und Verständigung.
Ziel ist eine Kultur, die nicht spaltet, sondern verbindet – durch Offenheit, Experiment und die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen.

Herausforderung der Gegenwart
Freiburg gilt als lebendige Kulturstadt – mit Theater, Orchester, Festivals, Straßenmusik und freien Projekten.
Doch hinter der Vielfalt zeigen sich Risse:
Veranstaltungen zersplittern, Aufmerksamkeit zerstreut sich, und der Gemeinsinn gerät unter Druck.
Immer öfter tritt an die Stelle von Inhalt ein Wettlauf um Aufmerksamkeit, Technik und Spektakel.
So steigen Kosten und Eintrittspreise, während das, was Menschen wirklich zusammenführt, an den Rand gedrängt wird.
Das Ergebnis ist kein größeres Miteinander, sondern Ausschluss:
Wer nicht mithalten kann, bleibt draußen.
Damit verliert der öffentliche Raum seine Funktion als gemeinsame Wahrnehmungs- und Gestaltungsplattform – und die Gesellschaft ihr Wahrnehmungsorgan.

Was das für Kulturförderung heißt
Wenn Kulturförderung nur als Subvention für Inszenierung verstanden wird, verfehlt sie ihren Auftrag.

Die Entwicklung hin zur Eventlogik verhindert Formate, die Vertrauen, Offenheit und Verbindlichkeit stärken. Ein zukunftsfähiger Ansatz bedeutet:

  • Klare Unterscheidung zwischen Kulturarbeit im gesellschaftlichen Sinn und künstlerischer Produktion.
  • Langfristige Förderung von Orten und Formaten, die Begegnung und Teilhabe ermöglichen.
  • Beteiligung von Bürger:innen, Praktiker:innen und zivilgesellschaftlichen Gruppen an Entscheidungen.
  • Priorität für Projekte, die Solidarität und Publikumseinbindung stärken – nicht nur für Inszenierungen.

Das Ziel ist keine Kultur gegen Unterhaltung, sondern eine Balance:
Eine Gesellschaft braucht Orte der Tiefe, wenn sie ihre Vielfalt lebendig halten will.

Die Vision – Kultur leben
Kultur ist, wie wir mit uns umgehen.

Dieser Satz verschiebt den Fokus von äußeren Formen zu innerer Haltung.
Kultur geschieht, wenn Menschen sich zu sich selbst und zueinander verhalten – in Wahrnehmung, Sprache, Ethik und Handlung.
Kunst ist dabei Ausdruck – das Moment, in dem das Unsichtbare Gestalt annimmt.
Kultur ist Beziehung – das Feld, in dem Bewusstsein und Verantwortung wachsen.
Beides gehört zusammen: Kultur gibt Tiefe, Kunst gibt Form.
So verstanden, wird Kulturpolitik zur Politik des Miteinanders:
Sie gestaltet die Bedingungen, unter denen Wahrnehmung, Beziehung und Ausdruck möglich werden.
Nicht: Wie fördern wir Kunst?
Sondern: Wie ermöglichen wir Bewusstsein, Beziehung und Ausdruck?

Wenn Kultur der Umgang mit uns selbst ist, dann ist Sprache ihr inneres Werkzeug und Kunst ihr äußeres Echo.

Das Fringe Festival Freiburg lädt dazu ein, diesen Zusammenhang wieder spür- und erlebbar zu machen –
offen, experimentell, verbindend.